Anna von Boetticher nimmt einen letzten, tiefen Atemzug. Acht lange Sekunden – bis die Lunge gefüllt ist mit dem Element, das sie zum Überleben braucht. Dann taucht die Apnoe-Taucherin ab, um in der Tiefe des Wassers nach Höhepunkten zu suchen.

Es ist nur noch still. «Die Atmung, der Herzschlag. Das Leben ist in diesem Moment ja das Einzige, was noch zählt. Die Essenz des Menschen», sagt Anna von Boetticher. Sie ist vermutlich die einzige Sportlerin, die sich in ihrer Karriere über Tiefpunkte freut: Sie taucht ohne Pressluftflasche 125 Meter tief und kann die Luft 6:12 Minuten lang anhalten. Apnoe-Taucher gehen dorthin, wo die Ruhe vollkommen ist. Einmal tief einatmen und weg. Dazu braucht es viel Selbsterfahrung und ein Verständnis dafür, was im Körper passiert.

Wenn man die Luft anhält, löst das Hirn bei den meisten Menschen schon nach etwa einer Minute Alarm aus. Es befiehlt den Lungen, sich schleunigst mit Luft zu füllen. Doch hierbei handelt es sich um einen Fehlalarm; im Blut befindet sich zu diesem Zeitpunkt noch genug Sauerstoff, um alle wichtigen Organe für längere Zeit zu versorgen.

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Die Panik ist das, was einen umbringt. Panik tötet sofort.

«Ärzte sagen, der Mensch kann den Atem 15 Minuten lang anhalten, ohne seinen Körper zu schädigen», sagt von Boetticher und schiebt nach: «Man muss sich selbst fordern. So lernt man, Ruhe zu bewahren.» Selbst eine zu kleine Lunge und eine Autoimmunkrankheit halten die erfolgreichste Apnoe-Taucherin Deutschlands nicht auf.

Wenn sie abtaucht, begibt sie sich auch immer auf eine Reise zu sich selbst. Diese Erfahrung ist es, die sie auch nach mehr als einem Jahrzehnt immer noch am Tauchen ohne technische Hilfsmittel fasziniert. «Beim Apnoe-Tauchen setzt man sich der Welt um einen herum ultimativ aus, man ist völlig losgelöst von allem», sagt sie: «Man muss sich auseinandersetzen: mit der Tiefe, dem Wasser. Und mit sich selbst, seinem Körper, seinem Geist. Und seinen Grenzen.»

Stille im Kopf
Und was denkt sie auf dem Weg in die Tiefe? «Auf dem Weg nach unten habe ich die Augen immer geschlossen. Ich sage die ganze Zeit zu mir: Still, sei still! Bei einem perfekten Tauchgang bin ich wie in einer Blase. Zuerst gilt es, 30 Meter tief zu tauchen, danach ist die Luft im Körper so komprimiert, dass wir in den freien Fall kommen. Ich schliesse die Augen und sinke wie ein Stein. Der Herzschlag verlangsamt sich, ich puste durchgängig Luft für den Druckausgleich in meine Ohren.

Wenn ich an meiner Meterkarte angekommen bin, höre ich ein kleines Signal im Ohr, ich öffne die Augen, nehme die Karte und dann: Wow. Es ist der beste Moment. Ich sehe die Schönheit des Meeres. Ein unfassbares Erlebnis. Dafür mache ich das alles: Da ist Stille im Kopf, da hält die Welt an.»

Im Sommer 2011 will Anna von Boetticher in Scharm el-Scheich einen Weltrekord im Wettbewerb «variables Gewicht» aufstellen. Bei dieser Disziplin ziehen Gewichte den Taucher nach unten. Sobald er die festgelegte Maximaltiefe erreicht hat, legt er den Ballast ab und schwimmt aus eigener Kraft zurück an die Oberfläche. 130 Meter will Anna von Boetticher schaffen – die Marke bedeutet ihr viel, genauso tief ist sie einst mit Flaschen getaucht.

Der Abstieg gelingt, doch auf dem Weg nach oben geht etwas schief: Der Atemreiz setzt schon in 120 Meter Tiefe ein, etwa 100 Meter zu früh. Sie bewahrt Ruhe, obwohl sie weiss, dass sie einen sogenannten «Lung Squeeze» erleiden wird, eine Überdruckverletzung der Lunge, in die Blut dringt. Anna von Boetticher ist klar: Vielleicht wird sie diesen Tauchgang nicht überleben.

Anna von Boetticher
Anna von Boetticher (50) wächst in Bayern auf. Sie studiert Theaterwissenschaften und Literatur, zieht für das Auktionshaus Christie’s nach London und arbeitet in einer Galerie – aber nur rumsitzen und Sachen verkaufen, nicht ihr Ding. Sie lässt sich neben der Arbeit zur Tauchlehrerin ausbilden. Zur Disziplin Apnoe kommt sie erst mit 37, als sie ein Seminar bei der britischen Marine besucht. Schon nach zwei Stunden Training erreicht sie den Grund des Übungsbeckens in 28 Metern Tiefe. «Ich habe mir gedacht: Warum ist hier jetzt ein Boden?», erinnert sie sich: Ich muss ausprobieren, wie tief das noch gehen kann.»

Sie schafft es zurück bis in 40 Meter Tiefe, wo Sicherheitstaucher auf sie warten, dann wird sie ohnmächtig. Fünf Tage später, so beschreibt sie es in ihrem Buch «In die Tiefe», besteht Anna von Boetticher darauf, die Videoaufnahme des Unfalls anzuschauen. «Ich sah rötlichen Schaum aus meinem Mund und der Nase laufen, sah mein Gesicht, bläulich verfärbt. Sah, wie sie mich auf die Plattform zogen und der Arzt mit Herzdruckmassage begann. Sah, dass ich die Augen geöffnet hatte und atmete, aber ins Nichts starrte, im grauen Nebel zwischen Wachsein und Ohnmacht gefangen.»

Schon ein paar Tage später geht sie wieder tauchen. Dafür wird sie von Fragen gequält: Was war schiefgegangen? Passiert das wieder? Muss sie sich von ihrer Leidenschaft komplett verabschieden? Der Lungenarzt sagt, es sei ein Wunder, dass sie in dieser Situation so ruhig geblieben sei. «Die Panik ist das, was einen umbringt», sagt Anna von Boetticher. «Panik tötet sofort.»

Zwischen Kampfschwimmern und Minentauchern
Ihre Fähigkeiten unter Wasser machen sie für Menschen interessant, mit denen sie ohne das Apnoe-Tauchen nie in Kontakt gekommen wäre. Sie hält Vorträge, 2015 meldet sich die deutsche Marine bei ihr. Ob sie sich vorstellen könne, in der Ausbildung der Kampfschwimmer und Minentaucher mitzuarbeiten? Sie stellt sich in der Marineoperationsschule in Bremerhaven vor, erarbeitet sich im Schwimmbecken den Respekt der Ausbilder und der Rekruten, neben der Bundeswehr kommen Feuerwehrtaucher und Polizeitaucher dazu.

Diese Engagements sind ihre Haupteinnahmequelle; mit Apnoe-Tauchen wird man nicht reich – und kann es wahrscheinlich auch nicht ewig betreiben. Da fährt Anna von Boetticher das erste Mal aus der Haut: «Man hat doch kein Ablaufdatum! Ich bin doch kein Joghurt!» Wenn sie morgen nicht mehr tauchen könne, «dann gehe ich sofort intensivklettern und freue mich darüber». Wichtig sei im Leben, gleichzeitig hoch konzentriert und dennoch losgelöst zu sein, sagt die Apnoe-Taucherin: «Es ermöglicht das Überwinden von körperlichen und geistigen Grenzen: das Glück, wenn du dich wieder richtig spürst.»

Text: Christoph Grenacher
Bild: Daan Verhoeven

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