Renato Di Gisi verlor mit 55 seine Arbeit. Der Manager suchte nach einer Stelle in einem Grosskonzern – und fand eine in einem kleinen Start-up. Die grösste Hürde bei der Stellensuche war die Frage: Was will ich eigentlich? Seine Antwort: Selbstbestimmung.

Die Frage steht irgendwann im Raum, sie drängte sich geradezu auf und Renato Di Gisi muss laut lachen, als er sie hört: «Mit welcher Geschwindigkeit sind Sie im Alltag unterwegs?» Renato Di Gisi ist Head of Sales & Marketing bei der Firma Solmani SA. Der Titel ist um einiges grösser als sein Büro im Industriegebiet von Bussigny; er sitze sowieso fast mehr im Auto als hier an seinem Pult. Der Verantwortliche Sales & Marketing lacht also. Er hat gerade über DAS Produkt seines neuen Arbeitgebers gesprochen, über den pädagogischen Radar. Das ist dieser kleine Screen, der mit Vorliebe in 30er-Zonen hängt und die Geschwindigkeit anzeigt. Bis und mit 30 grüner Smiley, ab 31 roter Lätsch. Und bei Ihnen? «Nicht der grüne Smiley», sagt Renato Di Gisi. «Alltag bedeutet Vollgas, die Tage vergehen schnell.»

Vor ziemlich genau einem Jahr sass Renato Di Gisi dem Verwaltungsrat seines alten Arbeitgebers gegenüber. Auch da ging es ganz schnell: Pandemie, Auftragseinbruch, finanzielle Schwierigkeiten waren die Stichworte, Renato Di Gisi war seine Stelle als Generaldirektor eines Werbevermarkters in Genf los. Mit 55 fand er sich das erste Mal auf dem Arbeitsmarkt. Bei aller Erfahrung: Da fühle man sich, sagt Di Gisi rückblickend, etwas ratlos und verloren.

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Wie war es, sich mit 55 Jahren plötzlich auf dem Arbeitsmarkt wiederzufinden?
Es fühlte sich fremd an. Es ist eine unbekannte Welt, in die man eintritt. Meine Beraterin auf dem RAV erklärte mir, was ich zu erwarten habe. Dass ich gemäss Statistik zwischen 12 und 18 Monate brauchen würde, bis ich wieder eine Stelle finden werde. Dass Covid diese Zeit vielleicht noch verlängern werde.

Wie gingen Sie mit dieser Prognose um?
Ich versuchte, trotz der Enttäuschung und des Ärgers über die Entlassung nach vorne zu schauen. Ich hatte die Vorstellung, ins Management eines Unternehmens zurückzukehren. Auf diese Weise konnte ich mich klar positionieren. Parallel dazu versuchte ich, Klarheit darüber zu gewinnen, welche Fähigkeiten ich besitze und wo diese gefragt sein könnten. Relativ früh kam das Wort «Start-up» ins Spiel.

Bekamen Sie Angebote?
Nein. Die Realität sieht so aus, dass man sich seinen Job suchen muss. Umgekehrt funktioniert es nicht. Das ist eine schmerzliche Erfahrung: Ich glaubte, ich hätte viele Freunde, Menschen in meinem Netzwerk, die mir helfen. Dann zeigt sich, dass die Finger einer Hand mehr als genug sind, um zu wissen, auf wen man sich verlassen kann. Ich wurde mit dem Arbeitsmarkt und seinen Eigenheiten konfrontiert.

Wie meinen Sie das?
Es ist eine Welt mit eigenen Gesetzen. Da interessieren sich Leute für eine Stelle, machen sich die Mühe, anzurufen, Dossiers zu schicken. Wofür? Vier von fünf meiner Bewerbungen blieben ohne Antwort, nicht einmal eine Empfangsbestätigung erhielt ich. Und ich bewarb mich bei grossen Unternehmen, multinationalen Konzernen, beim Kanton, bei Stadtverwaltungen.

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Renato Di Gisi (1965) ist Verantwortlicher Sales und Marketing bei der Firma Solmani SA. Die Firma in Bussigny VD entwickelt digitale Kommunikationslösungen für den öffentlichen Raum. Dazu gehören ebenso pädagogischen Radare wie die Info-Bildschirme über Autobahnen oder digitale Verkehrsschilder. Renato Di Gisi lebt in Chavannes-des-Bois VD.

Sie waren ausgeliefert, hatten die Sache nicht mehr in der Hand. Wie war das für Sie?
Natürlich war ich frustriert und verärgert. Ich fand es unerhört, dass meine Dossiers ohne Antwort blieben. Und ich finde es immer noch unerhört. Ich habe oft darüber nachgedacht, was das über unsere Arbeitswelt aussagt. Meine Konklusion ist nicht gerade schmeichelhaft.

Welche Rolle spielte Ihr Alter?
Wenn man 55 Jahre und älter ist, weiss man selber, dass die zweite Säule mehr kostet, dass die Lohnkosten höher sind. Was mich dann sehr überrascht hat: Das Alter war kein explizites Kriterium. Was nicht heissen will, dass ich die eine oder andere Stelle dennoch aufgrund meines Alters nicht bekam.

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Was war für Sie der Schlüssel, um eine neue Stelle zu finden?
Einerseits das Coaching, das mir das RAV ermöglichte. Ich habe mich mit Hilfe eines Coaches intensiv damit auseinandergesetzt, was ich kann, was ich will, wohin ich will und wie ich dorthin gelange. Diese Klarheit ist zentral. Zudem muss man an seinem Netzwerk arbeiten, vor allem in meinem Alter.

Was ist Ihr Tipp an Stellensuchende?
Hartnäckig bleiben, nicht aufgeben, auch wenn es Phasen gibt, in denen es zum Verzweifeln ist. Man muss die grossen Fragen aushalten, mit denen man unweigerlich konfrontiert wird: Was, wenn sich die Situation verschlimmert? Was, wenn ich nichts mehr finde? Was ist mein Plan B? Und man darf sich nicht schämen, zu sagen, dass man eine Stelle sucht. Das war vielleicht mein Glück: Wegen Covid gab es Verständnis für meine Situation.

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Am meisten freut mich, dass ich jeden Tag etwas beitragen kann.

Sie arbeiten nun bei einem Start-up mit vielen jungen Leuten zusammen. Woran merken Sie im Alltag, dass Ihre Erfahrung geschätzt wird?
Bei der Solmani SA sind wir ein kleines Team, acht Leute. Ich bin seit meinem ersten Arbeitstag in alle wichtigen Entscheidungen eingebunden. Meine Meinung und meine Analyse sind gefragt – und ich kann sie ungefragt einbringen. Das ist sehr wertschätzend und befriedigend.

Haben Sie die Freiheit, Ihre Arbeit selbstbestimmt zu gestalten?
Ich habe völlige Freiheit in meiner Tätigkeit. Natürlich nicht, was die Ziele betrifft, die sind klar. Aber wie wir sie erreichen, ist mir überlassen. Diese Freiheit ist sehr motivierend und ein Beweis für das Vertrauen der Firma in mich. Ich arbeite heute bei der Solmani SA so, als wäre ich Mitgesellschafter des Unternehmens.

Was ist das Beste an Ihrem neuen Job?
Am meisten freue ich mich darüber, dass ich jeden Tag etwas beitragen kann. Und dass ich lerne. Ich bin 56 und lerne jeden Tag Neues. Zu denken, dass man alles weiss, weil man ein bestimmtes Alter hat, ist vielleicht der grösste Fehler, den man machen kann.


Video: Mattogrosso
Fotos: Lukas Mäder
Text: Nicola Brusa

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