Ingeborg Spillmann hat mit 55 die Weichen in ihrem Leben nochmals neu gestellt: Sie hat die Ausbildung zur Trampilotin begonnen und sich selbstständig gemacht. Im Interview sagt sie, wie schwierig Tramfahren wirklich ist – und auf welcher Strecke man dem eigenen Ende im Taktfahrplan näherkommt.

Das kleinste Depot ist Ingeborg Spillmanns liebstes. Hier, in Zürich Wollishofen, startet der Dienst mit Spillmanns «absoluter Lieblingsnummer». «Die 7 ist abwechslungsreich und bietet alles», sagt die 60-jährige Trampilotin. «Sie beginnt in einem beschaulichen Stadtquartier, führt durch die lebendige Bahnhofstrasse über das Central raus ins Grüne und sogar durch einen Tunnel.»

«Ich habe lange überlegt, ob ich irgendwann so richtig in Rente gehen soll.»

Dafür, dass es in ihrem Leben nicht langweilig wird, sorgte Ingeborg Spillmann vor einigen Jahren selbst. Mit 55 Jahren entschied sie, einen sicheren, gut bezahlten Job aufzugeben, sich selbstständig zu machen und nochmals etwas Neues zu wagen: Trampilotin. Vorstellungsgespräch, psychologischer Eignungstest, medizinischer Check und eine gute Portion Häme aus ihrem Umfeld später sass sie das erste Mal ganz vorne im Tram, pilotierte stolz einige Tonnen Stahl und viele Menschen durch die Stadt.

Ingeborg Spillmann, was macht den Reiz des Tramfahrens aus?
Ich fahre wahnsinnig gerne Tram, weil man da ganz nah an den Menschen ist. Als Trampilotin spüre ich stets, wie es den Leuten geht. Ob es auf Weihnachten zugeht, ob Ferien sind, ob die Nacht zuvor Vollmond war. Und dann ist es halt das absolute Kontrastprogramm zum Schreibtischjob in meiner Agentur.

Weshalb haben Sie sich mit 55 entschieden, nochmals ganz was anderes zu machen?
Ich mochte Trams schon immer. Als Selbstständige arbeite ich oft allein, zu der Zeit ist zudem mein Lebenspartner gestorben und ich fühlte mich einsam. Ich hatte das Gefühl, ich müsse raus und unter die Leute. Aus einer Laune heraus habe ich dann beschlossen, mich zu bewerben. Zu meinem grossen Erstaunen haben sie mich genommen.
 

Illustration von einer männlichen und einer weiblichen Hand, in der Mitte ein Schnuller
Illustration von einer männlichen und einer weiblichen Hand, in der Mitte ein Schnuller

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Und wie war es, etwas ganz Neues zu beginnen?
Eine Herausforderung. Es gibt definitiv Einfacheres, als mit über 50 Tram fahren zu lernen. Ich habe studiert, ich habe einen Abschluss, ich hatte interessante, gut bezahlte Jobs in grossen Firmen. Aber diese Befriedigung, das mit dem Tramfahren geschafft zu haben, das war einmalig.

Wie wichtig ist Ihnen die finanzielle Sicherheit durch einen festen Job?
Das war beim Entscheid kein Kriterium. Da war es ein Herzenswunsch und eine Herausforderung. Ich lebte in finanziell abgesicherten Umständen, das zweite Gehalt spielte keine grosse Rolle.

Foto Portrait Frau um 60 Jahre in Arbeitsuniform vor Zürcher Tram
Ich glaube nicht, dass ich bis 70 fahren werde. Ich möchte meine Zeit schon noch ein wenig geniessen.

Wie lange wollen Sie noch arbeiten?
Ich habe lange überlegt, ob ich irgendwann so richtig in Rente gehen soll. Ich kann es mir nicht vorstellen. Was machst du dann? Also du wirst erst einmal den Keller aufräumen, dann den Estrich, dann besuchst du alle Freunde, die du schon lange nicht mehr gesehen hast, dann gräbst du im Schreibtisch nach der Liste mit den Reisezielen, die du in deinem Leben schon immer mal sehen wolltest. Das ist mir zu oberflächlich und auf Dauer auch zu langweilig.

Wie stellen Sie es sich denn vor?
Ich habe schon gern Freizeit, unternehme etwas mit meinem Partner, das ist mir wichtig. Aber ich will auch noch aktiv sein. Ich will nicht zu Hause sitzen und warten, bis mich der Tod ereilt. Als Trampilotin muss ich mir zudem nie die Sinnfrage stellen. Ich bringe Leute sanft und trocken und warm von A nach B. Damit erfülle ich eigentlich einen gesellschaftlichen Auftrag. Dieses Gefühl hast du nicht bei jedem Bürojob.

Foto Portrait Frau mit Brille um 60 Jahre am Steuer von Zürcher Tram

Ingeborg Spillmann kommt aus Bayern und lebt in Zürich. Die 60-jährige Kommunikationsfachfrau hat sich 2017 selbstständig gemacht, davor arbeitete sie während zehn Jahren in der Unternehmenskommunikation. Seit 2018 fährt sie in einem 60-Prozent-Pensum als Trampilotin durch Zürich. Sie hat einen erwachsenen Sohn.

Wird es Ihnen nie zu viel im Stadtverkehr?
Es ist phasenweise sehr hart. Praktisch alle Verkehrsteilnehmenden unterschätzen dich, 80 Prozent der Velofahrer ignorieren das Rotlicht, viele Fussgänger müssen noch rasch vor dir die Schiene überqueren. Dabei ist unser Bremsweg dreimal länger als der eines Autos. Manchmal denke ich, ich habe noch nie so hart gearbeitet wie hinter dem Kontrollrad.

Foto Portrait Frau um 60 Jahre in Arbeitsuniform im Tramdepot
Foto Portrait Frau um 60 Jahre in Arbeitsuniform im Tramdepot

Ingeborg Spillmann im Tramdepot in Zürich Wollishofen

«Finanzielle Sicherheit spielt auch eine Rolle. Der Neubeginn war aber vor allem ein Herzenswunsch.»

Und wie lange wollen Sie noch Tram fahren?
Spätestens mit 70 ist Schluss, das ist Vorschrift. Aber ich glaube nicht, dass ich bis 70 fahren werde, ich möchte meine Zeit schon auch noch ein bisschen geniessen. Mit 60 oder 65 bist du halt dem Tode sehr viel näher als der Geburt. Und ich gehöre nicht zu denen, die sagen, ich schiebe das jetzt alles mal auf.

Gibt es eine Tramlinie, die Sie nicht mögen?
Die Linie 11 Richtung Rehalp. Da kommst du zuerst am Balgrist-Spital vorbei, dann am Pflegeheim und schliesslich am Friedhof. Schon während der Ausbildung dachte ich mir, ich muss ja nicht mit dem Tram mein Leben abfahren.
 

Text: Adrian Schräder
Fotos: Lukas Maeder

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