Die neue Swiss Life-Studie zeigt, dass Menschen ab 55 in der Schweiz heute stärker in den Arbeitsmarkt integriert sind als noch vor zehn Jahren. Dennoch ist die Angst vor den Folgen eines Jobverlusts bei dieser Altersgruppe weit verbreitet. Dies schränkt nicht nur ihre finanzielle Zuversicht und ihre Selbstbestimmung ein, sondern beeinflusst auch die Diskussion um ein höheres Rentenalter. Im Interview erklärt Andreas Christen, Senior Researcher Vorsorge, die wichtigsten Fakten und Entwicklungen zum Arbeitsmarkt 55+.

Was überwiegt für über 55-Jährige auf dem Arbeitsmarkt – eher die Sonnen- oder die Schattenseiten?
Insgesamt ist die ältere Erwerbsbevölkerung gut in den Arbeitsmarkt integriert. Über 70% der 55- bis 64-Jährigen haben eine Stelle. Das ist mehr als vor zehn Jahren und liegt klar über dem OECD-Durchschnitt. Die Wahrscheinlichkeit, entlassen zu werden, ist ab 55 sogar tiefer als vor 55. Jedoch ist es im Falle eines Stellenverlusts deutlich schwieriger, wieder einen neuen Job zu finden. Zwar findet auch die Mehrheit ab 55 Jahren wieder einen Job, aber vielfach zu einem deutlich tieferen Lohn. Und etwa jede dritte arbeitslose Person ab 55 wird ausgesteuert. Wir schätzen, dass etwa 6 bis 7% der Gesamtbevölkerung zwischen dem 55. Altersjahr und dem ordentlichen Rentenalter aufgrund einer Entlassung oder einer betrieblich bedingten unfreiwilligen Frühpensionierung endgültig aus dem Erwerbsleben ausscheidet.

Wie beurteilen die Betroffenen – also die Erwerbstätigen zwischen 55 und 64 – selbst die Situation?
Ältere Erwerbstätige fühlen sich in den Betrieben mehrheitlich wertgeschätzt, finanziell selbstbestimmt und sind mit ihrer Arbeitssituation zufrieden. Die meisten fürchten sich auch nicht per se vor einem Stellenverlust, aber durchaus vor den allfälligen Folgen: Nur ein Viertel rechnet damit, im Falle eines Jobverlusts wieder eine vergleichbare Stelle zu finden. Und dies hat politische Konsequenzen. Je sicherer der eigene Job wahrgenommen wird, desto grösser ist bei 55- bis 64-Jährigen die Zustimmung für eine allfällige Erhöhung des Rentenalters – und umgekehrt.

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Was ist die Rolle der Arbeitgebenden und wie sieht ihre Personalpolitik 55+ aus?
Das Bild ist ambivalent. Von den rund 740 von Swiss Life befragten Unternehmen können sich über 70% grundsätzlich vorstellen, Personen ab 55 einzustellen, und fördern grossmehrheitlich keine Frühpensionierungen. Ausserdem geben die meisten an, dass Erwerbstätigkeit über das ordentliche Rentenalter hinaus im Betrieb grundsätzlich möglich sei. Trotzdem ist nur ein knappes Drittel der Arbeitgebenden dazu bereit, auch Erwerbstätige im Rentenalter einzustellen. Und lediglich ein Viertel ergreift aktiv Massnahmen, um Mitarbeitende dazu zu bewegen, bis zum oder über das ordentliche Rentenalter hinaus erwerbstätig zu bleiben. Alles in allem betreibt eine Mehrheit der Unternehmen eine eher passive Personalpolitik 55+.

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Eine 66-jährige Frau ist bereits pensioniert, würde aber gerne wieder für ein oder zwei Tage erwerbstätig sein. Wie stehen ihre Chancen?
Dieses Beispiel ist repräsentativ für rund 10% der Menschen im Alter von 65 bis 70, die nicht mehr erwerbstätig sind, aber sich die Wiederaufnahme einer Tätigkeit vorstellen können. Weitere etwa 20% sind noch in irgendeiner Form – meist selbstbestimmt – erwerbstätig, die Hälfte davon als Selbstständige. Mit Glück findet die Frau im Beispiel ein Unternehmen, das sie einstellt. Aber vermutlich müsste sie sich selbstständig machen, da nur etwa jedes dritte Unternehmen überhaupt bereit ist, jemanden im Rentenalter einzustellen. Plattformen wie Rent a Rentner oder seniors@work, welche sogenannte Senior Talents und deren Arbeitsleistungen an Unternehmen vermitteln, könnten eine Alternative sein.

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Was passiert in den nächsten Jahren, wenn die letzten Babyboomer in den Ruhestand gehen?
Die grosse Pensionierungswelle der letzten Babyboomer-Jahrgänge hat eben erst begonnen und nimmt nun Fahrt auf. 2030 wird es pro Jahr voraussichtlich knapp ein Drittel mehr Pensionierungen geben als noch 2019. Gleichzeitig wächst das Arbeitsangebot künftig langsamer als die Bevölkerung und diese Lücke wird nicht gänzlich geschlossen. Das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in vielen Branchen die Personalknappheit und den Fachkräftemangel verstärken. Unternehmen müssen künftig mit weniger selbstbestimmten Personal- und Rekrutierungsentscheidungen rechnen. Unsere Umfrage deutet darauf hin, dass dies noch häufig unterschätzt wird.

Länger leben – länger Arbeit geben?

Die ganze Studie

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Methodik

Die Studie basiert erstens auf einer systematischen Auswertung der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) durch die Autoren von Swiss Life und weiteren Daten des Bundesamts für Statistik sowie der OECD. Zweitens führte das Marktforschungsinstitut ValueQuest GmbH im Auftrag von Swiss Life in der zweiten Oktoberhälfte 2020 jeweils eine für die Deutsch- und die Westschweiz repräsentative Bevölkerungs- sowie eine Unternehmensbefragung im Rahmen von Online-Panels durch. An der Bevölkerungsbefragung haben 1472 Personen im Alter 55 bis 70 teilgenommen, die aktuell erwerbstätig sind oder dies vor der Pensionierung waren. An der Unternehmensbefragung haben rund 740 Personalentscheidungstragende (Geschäftsführerinnen, Vorstandsmitglieder, HR-Fachpersonal, Abteilungs- und Teamleitende) teilgenommen.

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