Pensioniert und damit auf dem Abstellgleis? Von wegen: Alexis Weil hat mit seniors@work eine Plattform geschaffen, auf der Menschen über 60 ihre Dienste anbieten können – von der Gartenarbeit bis zur Unternehmensberatung. Das Geschäft mit der selbstbestimmten Altersteilzeit kommt an.

Dass sich Alexis Weil mit den psychologischen und den philosophischen Aspekten von Alter auseinandersetzt, wird schon bei der Begrüssung überdeutlich. Genauer gesagt, als es darum geht, wer wem warum das Du anbieten darf. «Ich finde eigentlich, Altersangaben machen nur bis 18 Jahre Sinn. Danach würde es doch reichen, zu sagen: Ich bin erwachsen», sagt der erwachsene, aber junge Mann mit den hochgerollten Skinny Jeans. «Alles andere sind Stempel, die Menschen tendenziell daran hindern, ihr volles Potenzial auszuschöpfen: Ist jemand über 60, ist er oder sie schnell mal 'zu alt', um noch dies oder jenes zu tun, obwohl sie oder er eigentlich Lust darauf hätte. Ist doch schade.» Wir sind schon mitten im Thema, noch bevor wir sein Büro betreten haben – der Basler hat sich in der Workspace Lounge am Zürcher Tessinerplatz eingemietet. Hier werkeln lauter junge Leute – einen Flat White im Thermobecher und einen Powerball aus Datteln für den Extra-Energiekick neben sich – an der neuesten Idee, dem grossen Durchbruch. Alexis Weil widmet sich mit seniors@work der Aufgabe, älteren Menschen, die selbstbestimmt wieder arbeiten wollen, neue Jobs – und dadurch mitunter auch Lebenssinn – zu vermitteln. Mithilfe smarter Algorithmen und neuester Technologie, versteht sich. Rund 5000 «Senior Talents» sind momentan auf der Plattform angemeldet.

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Wie sind Sie auf die Idee gekommen, seniors@work zu gründen?
Vor vier Jahren wurde mein Vater pensioniert. Er sollte von einem Tag auf den anderen in den Ruhestand gehen, obwohl er so viel Wissen und Arbeitserfahrung hat, körperlich noch fit ist, mitten im Leben steht und eigentlich motiviert ist, noch weiterzuarbeiten. Ich merkte, wie absurd sich das für ihn anfühlte. Mit 65 hat man gemäss statistischer Lebenserwartung noch 20 Jahre vor sich – was macht man denn da die ganze Zeit?

Was macht Ihr Vater heute?
Er hat auf seniors@work zwei Wirtschaftsstudenten kennen gelernt, die einen Mentor gesucht haben. Die sind auf ihn gekommen, weil er Praxiswissen in der Finanzbranche hat. Und in über zwei Jahren hat sich eine Freundschaft entwickelt, er kommt immer heim und erzählt ganz stolz, sie hätten die besten Noten erhalten. Gleichzeitig hat er aber auch Expats bei der Steuererklärung unterstützen können, KMUs beim Jahresabschluss. Im Moment ist er aber in einem ganz neuen Feld tätig: als Immobilienberater. Mit 69 einfach mal noch einen anderen Bereich kennenzulernen, ich finde das grossartig.

Was sind die Vorteile von älteren Mitarbeitenden?
Einerseits die Lebenserfahrung, die die jüngere Generation einfach noch nicht haben kann. Das hat man jetzt auch in der Pandemie gemerkt: Jemand, der schon jahrzehntelange Lebens- und Arbeitserfahrung hat, reagiert einfach mit einer anderen Perspektive auf so etwas. Ich profitiere selber extrem von den zwei Seniors in meinem Team. Was wir aber auch oft hören von den Auftraggebenden, ist, dass die zeitliche Flexibilität ein sehr grosser Vorteil ist. Viele Unternehmen haben Projekte oder Teilzeitstellen, bei denen sie jemanden suchen mit einem niedrigen Pensum – und dort ist es halt eher schwierig, jemanden zu finden, der den Lohn heimbringen muss für die Familie. Da kommen dann unsere Senior Talents mit sehr viel entspannterer Ausgangslage an den Start.

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Es ist nicht entweder die Jüngeren oder die Älteren, sondern ein Miteinander!

Was sind die wichtigsten Beweggründe für Ihre Senior Talents? Geht es um Geld, Sinnsuche, soziale Kontakte?
Es gibt Studien, die zeigen: Die Mehrheit der Senior Talents will weiterarbeiten, weil sie Spass daran hat. Sie wollen das Wissen weitergeben, noch eine gewisse Struktur haben, in Kontakt bleiben. Das Finanzielle ist momentan noch sekundär, aber man muss auch ehrlich sein: In Zukunft wird das sicher als Thema wichtiger werden.

Die Swiss Life-Studie zeigt: Viele Unternehmen sagen zwar, sie wären bereit, über 55-Jährige einzustellen, tatsächlich tun sie es aber doch eher selten. Warum?
Ich denke, eines der grössten Vorurteile ist, dass man meint, sie seien teuer. Dabei gibt es für Pensionierte den AHV-Freibetrag, der die ganze Abrechnung einfacher machen soll für die Unternehmen. Dann gelten sie auch als wenig flexibel und digital nicht talentiert. Dabei sind heute auch bei 65-Jährigen über drei Viertel digital affin. Mein Vater zum Beispiel ist 69, hat ein Smartphone, ein Tablet und einen Computer. Diese Generation der Pensionierten ist in die Digitalisierung hineingewachsen, die stehen nicht einfach hilflos vor einem Computer. Es ist wichtig, den Unternehmen zu zeigen: Es ist nicht entweder die Jüngeren oder die Älteren, sondern ein Miteinander.

Wie viele Jobs oder Matches sind schon zustande gekommen?
Seit dem Start der Plattform 2019 haben wir über 600 Vermittlungen machen können. Das waren einerseits kleinere Aufträge, aber in letzter Zeit auch vermehrt Teilzeit- oder temporäre Stellen.

Sind die Firmen, die jemanden bei euch suchen, eher Start-ups oder auch Grossbetriebe?
Unsere Zielgruppe sind vor allem Start-ups und KMU, also eher die kleinen Unternehmen, die nicht das nötige Budget und die nötige Rekrutierungserfahrung haben oder die auch nicht so bekannt sind, dass sie auf ihrer Website ein Inserat aufschalten können und dann eine riesige Reichweite haben.

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Alexis Weil schloss seinen Master in Finance & Accounting an der Universität St. Gallen ab. Nach verschiedenen Tätigkeiten in den Bereichen Finanz- und Versicherungswesen entschloss sich Weil 2018, seinen eigenen Weg zu gehen, und gründete die Online-Vermittlungsplattform seniors@work, von der er seither CEO ist.

Wie viel Prozent der Stellensuchenden bei Ihnen sind ungewollt pensioniert – und suchen wirklich wieder einen fixen Job?
Natürlich kommen immer wieder mal solche Anfragen, aber für die gibt es schon einige Projekte, zum Beispiel auch das RAV oder andere Institutionen. Für die 60+-Jährigen oder die Pensionierten gibt es allerdings wenig und wir fokussieren uns auf diese Zielgruppe. Der Altersdurchschnitt liegt bei uns ungefähr bei 65, es gibt viele, die frühpensioniert sind. Unsere Zielgruppe sind die 60- bis 75-Jährigen.

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Welche Tipps geben Sie Ihren Senior Talents mit auf den Weg für die Jobsuche?
Ich glaube, das Wichtigste für Senior Talents, aber schlussendlich für jeden ist, einfach offen zu sein. Offen zu sein, etwas Neues zu lernen oder neue Arbeitsmodelle auszuprobieren. Und auch flexibel zu sein – wenn jemand vorher in der Buchhaltung tätig war, muss er oder sie nicht für immer in diesem Bereich weiterarbeiten, sondern hat vielleicht noch weitere jobrelevante Fähigkeiten oder Hobbys.

Freuen Sie sich auf den Ruhestand?
(Lacht) Ich glaube, ich persönlich werde mich nie pensionieren lassen, es gibt immer Sachen, die ich machen möchte, Dinge, die mir Freude bereiten. Für mich ist wichtig, die Leute aufzuklären, dass Arbeit über das Pensionsalter hinaus nichts Negatives sein muss. Wenn man pensioniert ist, hat man eine gewisse Flexibilität und man kann frei entscheiden, was man wann wo tun will. Genau für diese Selbstbestimmung steht seniors@work.

Video: Mattogrosso
Fotos: Lukas Mäder
Text: Michèle Roten

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