Mit 70 bildet der Mensch neue Hirnzellen, mit 90 kann er die Muskelkraft noch steigern – mit dem Altwerden lassen sich die Senioren von heute Zeit. Warum es so wichtig ist, den Alltag im Alter selbstbestimmt zu gestalten, erklärt der Schweizer Soziologe François Höpflinger.

„65-Jährige sind oft beleidigt, wenn sie Prospekte von der Pro Senectute bekommen“, haben Sie kürzlich in einem Vortrag gesagt. Warum ist das so?
Die Frauen und Männer bleiben heute länger gesund, sind länger und verstärkt aktiv und unternehmungslustig, mehrheitlich sind sie – in unserer Gesellschaft – wirtschaftlich abgesichert und haben eine sehr gute Wohn- und Lebensqualität. Auch Einsamkeit im Alter ist seltener geworden. Wir haben Daten aus den 1970er-Jahren und von heute verglichen und es haben sich praktisch alle Werte verbessert.

In den Medien ist oft von den „jungen Alten“ zu lesen …
Dabei sind wir schon einen Schritt weiter: Bis in die 1990er-Jahre hat sich diese relative Verjüngung auf die jungen Alten ausgewirkt, also Personen ab 64 Jahren. Jetzt zeigt sich, dass das auch die über 80-Jährigen betrifft. Ihre Situation hat sich ebenfalls deutlich verbessert. Und: Die Leute zählen sich selbst viel später zu den Alten.

Das heisst, die Menschen sind mit 70 heute biologisch jünger als früher – und fühlen sich auch so?
Die Daten zeigen, dass die meisten Frauen und Männer bis 80 sich subjektiv viel jünger einschätzen, als sie es sind. Die 65- bis 74-Jährigen fühlen sich genauso innovativ wie die 15- bis 24-Jährigen. Die demographische Alterung wird gesellschaftlich kompensiert durch eine soziokulturelle Verjüngung.

Zur Person

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François Höpflinger

Prof. Dr. phil. François Höpflinger (geb. 1948) ist ein Schweizer Alters- und Generationenforscher. 1994 bis 2013 war er Titularprofessor für Soziologie an der Universität Zürich, seit 2013 ist er Mitglied der akademischen Leitung des Zentrums für Gerontologie. Seine Forschungsschwerpunkte sind Alters- und Generationensoziologie. Aktuell befasst er sich mit den Themen Arbeit und Wohnen in späteren Lebensphasen.

Wie altern Herr und Frau Schweizer im internationalen Vergleich?
Die Lebenserwartung in der Schweiz ist eine der höchsten der Welt und die höchste in Europa. Im Durchschnitt liegt sie bei 85,4 Jahren bei Frauen und 81,4 Jahren bei Männern. Fast 60 Prozent der Frauen und Männer zwischen 65 und 74 schätzen ihre Situation als wirtschaftlich sehr komfortabel ein, also besser als genügend. Das ist nach Schweden der zweithöchste Wert.

Studien zufolge nehmen auch Lebenszufriedenheit und Lebensfreude um das Pensionsalter herum nochmal signifikant zu.
Mit der Pensionierung fallen Stressfaktoren weg – und man hat idealerweise mehr Zeit für Dinge, die man gern tut. Gerade im höheren Alter assoziiert man die Lebenszufriedenheit aber nicht nur mit der Gegenwart, sondern auch mit der Vergangenheit. Wichtig ist, wie zufrieden man mit seinem bisherigen Lebensweg, dem Erreichten ist.

Was fangen die „Best Agers“ mit dem Mehr an Lebenszeit an?
Mit der Pensionierung ist es heute ähnlich wie mit der Berufswahl, die Menschen haben im Vergleich zu früher viel mehr Möglichkeiten, ihre Zeit zu gestalten: Reisen, Sport, Weiterbildung, Arbeit, Freiwilligenengagement – wenn man in manchen Regionen die Freizeitangebote für Senioren anschaut, dann sind das Riesenbücher.

Wer die Wahl hat, hat die Qual, heisst es. Jüngere Menschen fühlen sich bei der Berufswahl mitunter überfordert. Wie kommen die Älteren damit klar?
Zum Teil sind auch sie überfordert und brauchen Beratung. Ähnlich der Berufsberatung für Jüngere gibt es heute Pensionierungsvorbereitungskurse für Ältere. Ein wichtiges Thema sind da zum Beispiel auch Paarbeziehungen. Die stehen mitunter vor grossen Herausforderungen, weil die Interessen plötzlich auseinandergehen.

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Fast 60 Prozent der Frauen und Männer zwischen 65 und 74 schätzen ihre Situation als wirtschaftlich sehr komfortabel ein, also besser als genügend. Das ist nach Schweden der zweithöchste Wert.

Gleichwohl hat die Mehrheit der älteren Frauen und Männer eines gemeinsam: Sie wollen auch im Alter selbstbestimmt leben können.
Was das konkret heisst, ist natürlich für jeden individuell, aber für viele bedeutet es eben, möglichst lange selbständig und gut versorgt im eigenen Zuhause zu wohnen und finanziell unabhängig und abgesichert zu sein. Die Rentner von heute machen ihre Hobbys zum Beruf, sie verreisen, sie treiben Sport, gründen eine Dixie-Band, lernen eine neue Sprache, spielen Theater oder engagieren sich bei Entwicklungshilfeprojekten. Die Leute wissen: Wenn sie nicht aktiv sind und nichts machen, dann verlieren sie sehr rasch ihre Kompetenzen – „use it or lose it“.

Die Menschen arbeiten auch vermehrt über das ordentliche Rentenalter hinaus. Aktuell ist es rund ein Drittel, der nach 64 bzw. 65 weiterarbeitet – Tendenz steigend. Sie zählen auch dazu …
Genau, dieser Wert hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, während Frühpensionierungen rückläufig sind. Auch der Anteil der Menschen, die über das Pensionierungsalter hinaus Teilzeit arbeiten, ist innerhalb der letzten fünf Jahre stark angestiegen. Drei Viertel derjenigen, die über 64 respektive 65 Jahre hinaus arbeiten, arbeiten aus Freude an dem, was sie tun.

Drei Mitglieder des Lauftreffs Luzern beim Laufen beim Sedel, Luzern,

Zahlen & Fakten

  • 14% der 55-74-Jährigen stuften sich 1990 selbst als innovationsorientiert ein. 2000 waren es 38%, 2013 67%.
  • 28% der 75-79-Jährigen in der deutschsprachigen Schweiz nutzten 2013 aktiv das Internet. 2018 waren es 69 %.
  • Um 1900 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz bei Geburt 45,7 Jahre (Männer) bzw. 48,5 Jahre (Frauen). 2017 betrug sie 81,4 bzw. 85,4 Jahre. 

Jeder sollte im Hinblick auf das Älterwerden sein eigener Lebensunternehmer sein, sagen Sie. Was heisst das?
Früher war Altern etwas, das geschah. Man wurde alt. Das war etwas, das man nicht ändern konnte. Heute weiss man: Das ist nicht ganz richtig. Man kann mit 70 noch neue Hirnzellen bilden. Man kann mit 90 noch die Muskelkraft durch entsprechende Übungen steigern. Das ist ein ganz neuer Gestaltungsprozess …

…Den ich am besten wie angehe?
Indem ich mir selbst frühzeitig die Frage stelle: Was will ich noch machen im Leben? Es kann sehr hilfreich sein, nach dem Berufsleben oder bereits im späteren Berufsleben eine Ruhephase einzulegen im Sinne eines Sabbaticals, so ein halbes Jahr. Auch ist eine gewisse Skepsis gegenüber manchen Ratgebern, die es am Markt gibt, angebracht: Lebensqualität kommt nicht mit der „richtigen“ essbaren Wurzel oder der Vitamintablette.

Frau 60 plus, mit ihrem Enkel (16) am Laptop, vor Bücherwand. Luzern, Schweiz
Die Grosseltern sagen zwar, sie würden Traditionen und Wissen an die Nachfahren vermitteln, aber der Lernprozess läuft heute von Jung zu Alt.

Sie raten, sich frühzeitig mit dem Älterwerden und der Pensionierung auseinanderzusetzen: Wann konkret?
Mit der Pensionierung im Sinne der finanziellen Altersvorsorge sollten sich gerade junge Leute stärker befassen. Wichtig ist da, das Finanzwissen bei den Jüngeren auf- und auszubauen. Für die Frage „Wie gestalte ich die Zeit danach?“ kann man sich ruhig etwas mehr Zeit lassen. Es macht Sinn, das mit 50 bis 55 anzugehen.

Herr Höpflinger, Sie sind 70 Jahre alt. In einem Vortrag haben Sie von einer privaten Begebenheit erzählt: Ihr Enkel habe Sie als „alten Knochen“ bezeichnet, weil Sie mit dem iPhone zu langsam unterwegs waren. Fühlen Sie sich „alt“?
Kommt ganz auf die Situation an. Ich versuche, von den Jüngeren zu lernen. Die Grosseltern sagen zwar, sie würden Traditionen und Wissen an die Nachfahren vermitteln, aber der Lernprozess läuft heute von Jung zu Alt. Offenheit für Neues ist für Leute auch im hohen Alter ein Element, das viel Lebensqualität ausmacht. 

Impuls-Abende von Swiss Life

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Selbstbestimmt leben in späteren Lebensphasen

Der Soziologe François Höpflinger beleuchtet als Referent der Impuls-Abende von Swiss Life verschiedene Aspekte des Älterwerdens. Die Veranstaltungsreihe liefert Denkanstösse und Informationsmöglichkeiten zum selbstbestimmten Leben und den damit verbundenen finanziellen Weichenstellungen.

Was bedeutet für Sie persönlich Selbstbestimmung im Alter?
Dass man möglichst viel Autonomie hat, um zu sagen: Wie will ich gepflegt werden, wie nicht. Meine Frau und ich möchten zum Beispiel möglichst lange in unserem Haus leben. Dass man bestimmen kann, wie und wann man stirbt, gehört für mich auch dazu. Aber oft zwingt Altern eben auch zu Anpassungsprozessen, die man nicht selber steuern kann. Evolutionsbiologen wissen: Der Mensch ist kein guter Planer, wir sind gute Anpasser. Die meisten Leute, auch in höherem Alter, wehren sich gegen ein Pflegeheim, aber wenn sie dann da sind, passen sie sich in der Regel relativ schnell an.

Und wenn Sie an das wirklich hohe Alter denken, 95, 100 und mehr, das heute eben immer wahrscheinlicher erreicht wird?
Wir haben da das potenzielle Problem der wohlstandsverwöhnten Babyboomer. Die haben bis jetzt noch nie eine richtige Lebenskrise erlebt, die haben unter Umständen keine Resilienz fürs hohe Alter.

Nun, Sie sind Jahrgang 1948, gehören mithin auch zur geburtenstarken Nachkriegsgeneration der …
… Babyboomer. Klar, auch ich gehöre zur verwöhnten Generation. Bisher ist alles relativ gut gegangen, kein Krieg, Wohlstand, keine Arbeitslosigkeit, gute Wohnsituation, Gesundheit. Wir werden sehen. Aber eines ist für mich klar: Die jüngere Generation hat es heute viel schwerer, sie hat dafür aber auch mehr Optionen.

Herr Höpflinger, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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