Gerhard Andrey appelliert an Unternehmen, das Thema der finanziellen Ungleichheit zwischen Frauen und Männern anzugehen.

Gerhard Andrey legt grossen Wert auf Ausgeglichenheit und Balance. Zwischen Familie und Beruf, zwischen seiner Frau und sich, zwischen den Geschlechtern. Andrey, 47, zurückgekämmte schwarze Haare, markante Brille, redet mit ausladenden Gesten: Wenn der Nationalrat und Unternehmer spricht, dann sind es seine Hände, die den Ausgleich suchen, das Gesagte nivellieren.

Wir treffen Andrey in den Freiburger Büros der Digitalagentur Liip, die er mitgegründet hat. Als Politiker setzt er sich auf nationaler Ebene für den Ausgleich ein. Indem er nach Wegen und Lösungen sucht, um die finanzielle Ungleichheit zwischen Mann und Frau auszugleichen. Etwa den Gender Pension Gap, der in der Schweiz über 30 Prozent beträgt.

Gerhard Andrey im Interview mit Swiss Life

Andrey rät – «natürlich» – dazu, möglichst lückenlos vorzusorgen. Der Nationalrat der Grünen sagt aber auch: «Die 2. und die 3. Säule sind zu guten Teilen ein Privileg. Wir müssen davon wegkommen, die Vorsorge einzig über die Löhne zu finanzieren.» Gerade mit der Digitalisierung, die unsere Wirtschaft auf den Kopf stellt, dürfen wir das Thema Vorsorge nicht vor uns herschieben. «Und ich glaube, wir müssen uns eingestehen, dass das heutige System nicht mehr angemessen ist.»

Als Unternehmer versucht Gerhard Andrey, dieser Ungleichheit entgegenzuwirken. Er ist Mitgründer der Digitalagentur Liip, dieser wurde 2007 die Gleichberechtigung gleich in die DNA eingeschrieben. Das beginnt bei der Familienfreundlichkeit mit einem Vaterschaftsurlaub, einem äusserst flexiblen Teilzeitmodell, den doppelten Kinderzulagen – und es zeigt sich vor allem in der gewählten Struktur: Die Agentur ist holokratisch organisiert, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten selbstorganisiert, eigenverantwortlich und frei von Hierarchie.

Gerhard Andrey, gemäss einer neuen Studie von Swiss Life hat sich in den letzten Jahren beim Gender Pension Gap kaum etwas bewegt. Wundert Sie das?
Leider nicht. Ich glaube, wir haben hier ein neues Grundsatzproblem, welches das Problem noch verschärft: In einer zunehmend digitalen Welt darf die bezahlte Arbeit nicht mehr die alleinige Grundlage für die Vorsorge sein. Denn die Wertschöpfung wird vermehrt von den Mitarbeitenden entkoppelt: Facebook macht pro Mitarbeiterin 1,3 Millionen Umsatz und mehr als eine halbe Million Gewinn. Keine andere Branche kommt auch nur annähernd an solche Zahlen. Zudem ist es ein System, in dem unbezahlte Arbeit keinen Wert für die Vorsorge hat.

Illustration von einer männlichen und einer weiblichen Hand, in der Mitte ein Schnuller
Illustration von einer männlichen und einer weiblichen Hand, in der Mitte ein Schnuller

Verliebt, verlobt, versorgt?

Wie sich Erwerbsbiografien und Haushaltsformen auf den Gender Pension Gap auswirken. Hier finden Sie die ganze Studie.

Wie meinen Sie das?
Der Gender Pension Gap entsteht, weil wir bei der Vorsorge ausschliesslich bei den Löhnen abschöpfen. Solange Frauen mehr Teilzeit arbeiten und mehr Care-Arbeit übernehmen als Männer, werden wir diese Lücke nicht schliessen können. Und das heisst auch: Die Zeit, in der Frauen für die Familie arbeiten, unbezahlt, wird vom System als wertlos angeschaut.

Weshalb ist das ein Problem?
Weil 60 Prozent der Arbeit, die in der Schweiz geleistet wird, unbezahlte Arbeit sind. Da gehört eben die Kinderbetreuung oder der Mittagstisch dazu, aber auch die Arbeit der Grosseltern, die Unterstützung von Bedürftigen oder die Vereinsarbeit. Das sind alles wichtige gesellschaftliche Beiträge. Und die zählen nichts? Ich glaube, wir müssen davon wegkommen, nur die bezahlte Arbeit als Grundlage zu nehmen, um die eigene Rentensituation zu sichern. Das wird der Komplexität, insbesondere der heutigen digitalen, disruptiven Welt, nicht mehr gerecht.

Lachender Mann mit Brille

Der Unternehmer Gerhard Andrey (47) vertritt seit 2019 für die Grünen den Kanton Freiburg im Nationalrat. Er hat nach einer Lehre als Schreiner Holzbau-Ingenieur studiert und 2007 als einer von vier Mitgründerinnen und Mitgründern Liip gegründet. Die Digitalagentur kommt ohne Hierarchien aus und funktioniert holokratisch über die Definition von Rollen und Verantwortung, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst untereinander verhandeln. Liip hat Büros an sechs Standorten, zählt 20 Nationalitäten und mehr als 220 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; eine grosse Mehrheit arbeitet Teilzeit. Andrey ist verheiratet und hat zwei Kinder.

www.gerhard-andrey.ch
www.liip.ch

Wie steht es bei Ihnen zuhause um die Gleichstellung?
Seit ich im Nationalrat bin, ist es ein bisschen schwieriger. Ich habe mehr Termine und mache weniger zu Hause. Zum Beispiel «meinen» Montagsmittagstisch zuhause, ich muss ihn jedes zweite oder dritte Mal absagen, weil ich irgendeinen Termin habe. Zuvor war es egalitär, jetzt haben sich die Proportionen ein bisschen verschoben. Aber man darf sich nichts vormachen: Auf eidgenössischer Ebene zu politisieren, erfordert dieses Engagement.

Wie hat sich Ihr Familienleben verändert?
Unsere Tochter ist 12, unser Sohn 15, das hat es uns erlaubt, in ein anderes Modell zu wechseln: Vom Hotel Mama und Hotel Papa hin zu einer WG. Da sind die Erwartungen andere – und es ist cool, wie sich unsere Kinder einbringen und ihren Teil dazu beitragen. Etwa, indem sie mindestens einmal in der Woche ein richtiges Abendessen für alle kochen.

Wie definieren Sie Gleichstellung?
Meine Vorstellung von Gleichstellung ist, dass wir alle entlang unseren Bedürfnissen und Fähigkeiten teilhaben können. Und zwar in der Familie und in der Gesellschaft ebenso wie in Unternehmen. Daraus definiert sich auch ein individueller Teil der Gleichberechtigung: Wir haben nicht alle die gleichen Bedürfnisse, deshalb darf Gleichstellung nicht Gleichmacherei bedeuten.

Lachender Mann mit Brille
Was das Teilzeitarbeiten und die Familienbetreuung betrifft, ist die Schweiz rückständig.

Weshalb endet Gleichberechtigung oft beim Geld?
Die Schweiz ist rückständig, was das Teilzeitarbeiten und die Familienbetreuung betrifft. Rund 70 Prozent der Frauen haben ein Teilzeitpensum und übernehmen entsprechend einen grossen Teil der Familienbetreuung. Bei den Männern liegt die Teilzeitquote bei 20 Prozent. Ein grosses Ungleichgewicht ...

… mit finanziellen Folgen.
Das entscheidende Thema ist der Kinderknick. Den haben wir in der Schweiz einfach nicht im Griff. Der Moment, in dem das erste Kind auf die Welt kommt, ist zentral. Mit den heutigen Rahmenbedingungen läuft es allzu oft auf das Klischee hinaus: Der Mann macht Karriere, die Frau kümmert sich um die Familie. Dieses Problem müssen wir lösen und ich glaube, die Elternzeit ist hierfür ein gutes Modell. Sie schafft die nötige Zeit, um als Paar das gemeinsame Leben als Familie zu planen. Sonst ist die Frau lange aus dem Berufsleben raus und der Mann macht – welche Überraschung – genau in diesem Moment einen Karrieresprung. Dann beginnen all die Mechanismen zu spielen, bis hin zu den Vorsorgelücken bei den Frauen und zum angesprochenen Gender Pension Gap.

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Ist das ein privates oder ein gesellschaftliches Problem?
Wenn wir es Frauen derart unattraktiv machen, im Berufsleben zu bleiben, inklusive steuerlicher Nachteile, dass wir sie schliesslich «verlieren», dann ist das ein gesellschaftliches Problem. Es ist schon volkswirtschaftlich nicht sinnvoll, wenn gut ausgebildete Frauen nicht im Berufsleben verbleiben. Das können wir uns nicht leisten.

Wie lässt sich das Problem lösen?
Worüber wir verhältnismässig wenig reden, ist die Art, wie Unternehmen organisiert sind, wie Hierarchie organisiert wird. Hierarchie bedingt, dass man Leute hat, die nach der Macht greifen. Das folgt dem traditionellen Muster der Karriereleiter: Man muss über alle Massen performen, um aufzusteigen, man darf dann über mehr Leute verfügen, was sich wiederum auf Lohn und Gratifikation auswirkt. Das führt zu grossen Verwerfungen. Dieses System sollten wir ändern.

So wie Sie es bei Ihrer Agentur gemacht haben.
Mit unserer Art der Selbstorganisation und der Transparenz haben wir eine andere Definition dafür geschaffen, was eine Karriere ist. Wir organisieren Verantwortung und Macht anders – und weil sich Macht bei uns gar nicht erst kumuliert, entspannt sich vieles. Die Teilzeitfrage ebenso wie diejenige nach dem Lohn. Wir versuchen, dank der Selbstorganisation das Potenzial von allen – so kitschig, wie das auch tönt – maximal zu entfalten. Das ist nicht nur kulturell spannend, sondern auch ökonomisch.

Wie steht es um Ihren Machtanspruch? Immerhin sind Sie Politiker …
(lacht) Man muss die Macht abgeben, sonst funktioniert es nicht. Ich muss akzeptieren, dass bei Liip auch Entscheide getroffen werden, die ich persönlich für falsch erachte. In der Familie ist das ähnlich: Wir wollen unsere Kinder zur Selbstständigkeit erziehen, also muss ich ihnen die Selbstständigkeit zugestehen. Ich kann mir da kein Vetorecht ausbedingen, wenn sie anders entscheiden, als ich es täte.

Finanzen sind auch Frauensache!

Erfahren Sie, was Sie gegen Vorsorgelücken tun können.

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