Martin Wartmann ist eine feste Grösse im Schweizer Biergeschäft. Ans Aufhören denkt der 75-Jährige noch lange nicht – erst muss sein Start-up flügge werden. Ein Ortsbesuch in der einzigen Klosterbrauerei des Landes.

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Auf ins selbstbestimmte Abenteuer

Keine Wolke am Himmel, zwischen den Tannenwipfeln des nahen Waldes glitzern die ersten Sonnenstrahlen hindurch – das Kloster Fischingen zeigt sich an diesem Frühjahrsmorgen von seiner schönsten Seite, Hinterthurgauer Postkartenidylle. Martin Wartmann, dunkles Cord-Sakko, gepflegter Schnauz, strammer Schritt, könnte als einer jener älteren Herren der Besuchergruppe durchgehen, die soeben angeregt plaudernd die Anhöhe zur Klosterbrauerei hochlaufen, in freudiger Erwartung ihrer Führung.

Weit gefehlt: Martin Wartmann ist der Chef hier und heute extra für uns reingekommen. Den Grossteil der Arbeitswoche verbringt er sonst im Home-Office. Die «Pilgrim»-Brauerei Kloster Fischingen sei definitiv sein letztes unternehmerisches Abenteuer, sagt der 75-Jährige lachend, während wir auf einen Seitentrakt des imposanten Klosterkomplexes zulaufen. Dort, hinter einem historischen Torbogen mit grossen Glastüren, wird auf Wartmanns Initiative hin seit 2015 Bier gebraut.

«Aber nicht, dass Sie mich falsch verstehen», schiebt der gelernte Kaufmann gleich hinterher – «das hier ist kein Hobby, das muss wirtschaftlich aufgehen.»

Martin Wartmann steht vor der Klosterbrauerei Fischingen.
Ich kann weitgehend selbst bestimmen, was ich mache. Das ist mein roter Faden im Leben.

Am Anfang steht eine Zen-Meditation

Lager, Pils, Pale Ale, Craft Beer, Klosterbier, Stout, Amber und Co: Über 100 Bierstile gibt es weltweit und Martin Wartmann kennt sie wohl alle. Erblich bedingt, sozusagen, denn er entstammt einer Thurgauer Brauerfamilie. Den Geschmackstrends seiner Zeit war der Ururenkel des Gründers der Frauenfelder Actienbrauerei oft voraus. In den Siebzigern steigt er in den Familienbetrieb ein, was folgt, ist eine weltweite und rastlose Suche nach neuen Nischenmärkten im Biergeschäft. Sein unternehmerisches Gespür beschert Wartmann neben wirtschaftlichem Erfolg auch eine Pionierrolle im Schweizer Brau-Business. Doch Business hin oder her, jetzt lässt es sich der «Bierpapst», wie ihn die «Wiler Nachrichten» einst getauft haben, nicht nehmen, uns eine persönliche Führung über das Klostergelände zu geben. Erste Station: die Klosterkirche mit Idda-Kapelle, Herzstück der heutigen Benediktiner Abtei und ein Juwel der barocken Kirchenarchitektur. Business sei wichtig, sagt Wartmann mit gedämpfter Stimme, als wir im Innern der Kapelle angekommen sind.

Was aber mindestens genauso zähle: die Besinnung auf den Ursprung des «Pilgrim»-Bieres und der sei eben eng verknüpft mit dem «Kraftort», den man hier im Kloster, inmitten alter Gemäuer und malerischer Landschaft, auch körperlich spüren könne.

Er selbst habe diese Art Eingebung «während einer Zen-Meditation bei Bruder Daniel» gehabt – «drei Tage nix sagen, muss manchmal sein. Als ich in einer Pause aus dem Fenster runtergeschaut habe auf das wunderschöne Areal in der Sonne, da war mir klar: Wenn ich nochmal eine Brauerei eröffne, dann hier.»

Martin Wartmann degustiert Bier im Bierkeller seiner Brauerei.
Meinen Erfahrungsschatz an die weitergeben, die nach mir kommen – das ist meine letzte, grosse Aufgabe.

Haxen, Blasmusik und Remmidemmi

Gemeinsam mit zwei Freunden, wie er bereits im Pensionsalter, gründet Wartmann 2014 die «Pilgrim»-Brauerei, einen Kleinbetrieb spezialisiert auf Gourmetbiere in der klösterlichen Brautradition. Mit Klosterverein und Ordensbrüdern sei man sich schnell einig gewesen. «Kennen Sie Andechs?», habe Prior Gregor ihn gefragt. «Ich meinte: Ja, aber genau das wollen wir nicht. Da hat er zufrieden genickt, wir haben uns sofort verstanden. Keine Mostkrüge, keine Haxen, keine Blasmusik und ganz sicher kein Remmidemmi im Klosterhof.»

«Es ist ein Win-win für beide», wie Wartmann es im Business-Sprech ausdrückt. Und eine Story, die sich gut verkaufen lässt – nicht umsonst nennt der Unternehmer sich selbst augenzwinkernd einen «Marken-Freak», der schon immer eine Passion und auch ein Händchen dafür hatte, Brands aufzubauen und zu entwickeln. Bekannt wurde er als Erfinder des ersten Schweizer Amber-Bieres, des «Original Ittinger Klosterbräu», 2008 verkaufte er die Marke an die Grossbrauerei Heineken.

Also alles Gold, was glänzt, im Geschäft mit dem Bier? Wartmann überlegt kurz. Inzwischen sind wir in einem anderen historischen Gewölbe angekommen, dem über 300 Jahre alten Weinkeller des Klosters. Heute lagern hier, in idealen Temperatur- und Luftfeuchtigkeitskonditionen, ehemalige Rum-, Whisky- und Cognac-Fässer, gefüllt mit einem flüssigen Schatz: den limitierten Grand-Cru-Bieren, später abgefüllt in Champagnerflaschen mit Naturkorken. 

«Ich war überzeugt, dass wir die Brauerei innerhalb von fünf Jahren aufgebaut haben würden», sagt Wartmann.

«Wir hatten das Netzwerk und die nötigen finanziellen Mittel. Eine Zeitlang lief es auch richtig gut.» Aber dann hätten erst Covid und zuletzt der Ukrainekrieg der Kleinbrauerei zugesetzt. «Der Strompreis ist in die Höhe geschnellt, der Preis für das Malz hat sich verdoppelt, Glas wurde teurer. Die Situation ist herausfordernd, aber da gehen wir jetzt durch.» Die Fähigkeit, sich auch in schwierigen Zeiten durchzubeissen, sei eine in heutiger Zeit unterschätzte Qualität, «vielleicht eine Stärke der alten Unternehmer. Und man ist ja auch ein bisschen ehrgeizig, muss ich zugeben.

Ursprünglich habe er sich bereits mehr zurückziehen wollen aus dem Tagesgeschäft. Daran sei aktuell halt nicht zu denken, aber: «Ich habe ein ausgefülltes Leben, ich arbeite jeden Tag gern, kann etwas bewegen und weitgehend selbst bestimmen, was ich mache. Das ist mein roter Faden im Leben.» Überhaupt: Reinreden lassen hat sich ein Martin Wartmann schon immer nur höchst ungern, der Unternehmergeist in ihm sei freiheitsliebend und «widerborstig». «Ich wäre vermutlich ein schlechter Angestellter gewesen», sagt er lachend.

Mit kritischem Blick und in Begleitung seines Brauers inspiziert Martin Wartmann jetzt die im Klosterkeller lagernden Grand-Cru-Biere, das Premium-Produkt des ohnehin gehobenen «Pilgrim»-Sortiments. Mit einer armlangen, gläsernen Pipette entnimmt er aus den Barrique-Fässern vorsichtig ein paar Tropfen der goldbraunen Flüssigkeit, Alkoholgehalt jeweils zwischen 12 und 16 Prozent; eine aromatische Rumnote strömt aus. «Wow», sagt er nach der Kostprobe. Der Chef ist zufrieden.

Wie es eigentlich um seine Nachfolge bestellt sei, frage ich, wird es eine fünfte Brauer- oder Braueringeneration geben?

Von seinen vier Töchtern könne sich keine vorstellen, in die väterlichen Fussstapfen zu treten, sagt Wartmann, die vier Enkel wiederum seien noch klein. Aber das mit der Nachfolge sei jetzt eben seine «letzte grosse Aufgabe». Wobei ein grosser Teil des reichen Wartmannschen Erfahrungsschatzes bereits am besten Ort gesichert sei – im «Pilgrim»-Team. «Ich sage den Kolleginnen und Kollegen dann jeweils: Eines Tages werde ich auf der rosaroten Wolke oben drüberfahren und schauen, was ihr da unten macht. Dann würde ich mich freuen, wenn es Pilgrim noch gibt.»

Fotos: Mario Baronchelli

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